Am Abend des 19. März riss sich Hilo Pfeiffer die Venenkanüle aus der Hand, zog ihren Mantel über und hastete in Badeschlappen über den notbeleuchteten Flur des Krankenhauses in Wittlich. Ihre Großmutter hatte ihr als Kind immer Geschichten vom Werwolf erzählt. Sie hatte nie daran geglaubt. Bis heute.
Hilo drückte den Bügel der Glastür zum Treppenhaus und nahm die Treppe zum Ausgang. Sie trat in die mondhelle Nacht hinaus und lief so schnell es ihr vorgewölbter Bauch zuließ die Straße hinunter.
Am Morgen desselben Tages. Ein junger Belgier flog mit seinem Gleitschirm in Richtung Prüm. Er mochte diese präzise gezogenen Grenzlinien zwischen den Feldern. Sie erinnerten ihn an eine Linie Koks und ließen ihn in das Himmelblau jauchzen.
Die Landschaft wurde hügeliger und waldiger. Das GPS piepste. Der Kurier näherte sich dem Ziel und machte sich bereit für den Abwurf. Über einer Pferdekoppel löste er die Halterung für die beiden Päckchen, die er unter die Brust geschnallt hatte. Zehntausend Ecstasy-Tabletten.
Dann schaltete er den Motor an, um schneller wieder aufsteigen zu können. Er informierte gerade seinen Auftraggeber über die erfolgte Lieferung, als die Hubschrauber über der Bergkuppe auftauchten.
Die Inhaberin des Ponyhofs hing ihre Schürze an den Nagel und ging hinaus auf die Pferdekoppel. Sie hatte wenige Minuten zuvor einen Telefonanruf erhalten. Sie sah die milchkartongroßen Quader schon von Weitem. Der Zuchthengst, den sie sich von Ihrem Anteil gekauft hatte, knabberte an der Plastikfolie, in die die Lieferung eingewickelt war. Wie oft hatte sie schon gesagt, dass der Kurier die Ware nicht über der Weide abwerfen sollte. Sie konnte für die Tiere nicht garantieren. „Oh, doch. Das können Sie. Und das werden Sie“, hatte der Unbekannte am anderen Ende der Leitung gesagt, als sie sich letztes Mal darüber beklagte, „oder sollen wir den Abdecker vorbeischicken?“ Sie hatte zu schwitzen begonnen, als trage sie einen Wolfspelz im Hochsommer. Sie lief hinaus auf die Weide.
Kaum hatte sie den Zuchthengst in die Box geführt, hörte sie den Hubschrauber. Sie legte die Wange an den Hals des Tieres. „Alles wird gut“, sagte sie, „die kommen nie wieder.“
Zur selben Zeit schlenderte Gayl, der eigentlich Boghos Amadouni hieß, über den Marktplatz und überlegte, ob er Hilo einen Besuch abstatten sollte. Sie hatte letztes Jahr nicht nur seine Aussagen ins Deutsche übersetzt, sondern auch die Pläne der Polizei ins Armenische. So hatte er rechtzeitig das Lager leer räumen können, bevor das Suchkommando anrückte.
Er hatte sich angemessen bedankt. Jetzt trug sie seinen Sohn im Leib. Einem Informanten zufolge sprach sie von heiraten und bestand darauf, mit ihm persönlich zu reden.
Gayl steuerte auf ein Café zu und setzte sich an einen Tisch im Freien. Er bestellte einen doppelten Espresso. Mutter seines Sohnes hin oder her, Hilo war ein Sicherheitsrisiko. Er schickte eine SMS mit der entsprechenden Anweisung an einen seiner Fußsoldaten. Dann schloss er die Augen und genoss die Frühlingssonne.
Ein Schatten schreckte ihn aus seinen Gedanken. Er wollte aufspringen, doch die Polizisten waren schneller.
„Hat dein Vögelchen geplappert?“, höhnte einer der Beamten, woraufhin ihn ein anderer mit „Klappe!“ zurechtwies.
Gayls Fußsoldat las die Nachricht: Geh zu Vögelchen und bringe Wolfskind mit. Vögelchen war die Dolmetscherin, so viel stand fest. Und Gayl bedeutete Wolf. Er ging er zu Hilos Wohnung. Die sei im Krankenhaus, sagte eine Nachbarin, nachdem er sie ein bisschen geschüttelt hatte. „Das Kind kommt jede Minute.“
Er fuhr zur Klinik. Hilo wusste sofort, dass er von Gayl kam. Sie schien sich nicht zu freuen. „Du kommst zu spät“, sagte Hilo, denn sie glaubte nicht mehr an Gayls Liebe. „Eher zu früh“, meinte er, denn das Kind steckte noch in ihrem Leib. Er beugte sich zu Hilo hinunter. „Du hast etwas, das dir nicht gehört“, sagte er und legte seine Hand auf ihren Bauch. „Ich komme wieder.“ Hilo lief die Straße hinunter in den Wald. Irgendwann sackte sie erschöpft auf ein Moospolster. Als sie sich wieder aufrappelte und aus dem Wald trat, befand sie sich a einem Friedhof. Die Wehen setzten ein.
Am nächsten Morgen wachte sie im Pfarrhaus auf, ihre Tochter im Arm. Die Haushälterin des Pfarrers, die wegen des Vollmonds nicht hatte schlafen können, hatte Hilos Schreie gehört und den Pfarrer geweckt.
„Ich habe gedacht, da draußen heult ein Werwolf“, sagte sie später zur Polizei. Hilo nickte. Gayl musste sie verhext haben.
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